Index 19: Schaffung und Zerfall durch Design


Smilla Diener
14.06.21

Smilla liest seit anderthalb Jahren ein Buch: «Biomimicry» von Janine Benyus. Die Lektüre beschäftigt sie seit so langer Zeit, weil sie das zugrundeliegende Konzept so beeindruckt: Laut der Biomimetik basiert das Design der Zukunft auf jahrtausendealten Phänomenen der Natur.



«Der Bio-Verbundstoff, der uns vor Plastik retten wird»[1], lautet eine der Headlines, nachdem Neri Oxman und ihr Team «The Mediated Matter Group» ihre Arbeit Aguahoja präsentiert. Das fünf Meter hohe Gebilde aus Cellulose, Chitosan und Pektin – drei der meistverbreiteten Biopolymeren auf unserem Planeten – wurde mittels 3D-Druck errichtet. Ein Blickfang. Aguahoja verkörpere Schaffung und Zerfall durch Design, schreiben die Entwickler:innen.[2] Sie sprechen von «Material Ecology». Was meinen sie damit?

Neri Oxman ist Designerin und Professorin am MIT Media Lab, am renommierten Massachusetts Institute of Technology. Sie widmet sich Technologien, die naturnahe Lösungen für die Architektur, das Produktdesign und Fashion bieten. Damit reiht sie sich ein in eine alte Disziplin mit jungem Namen: Der Biomimetik. Menschen lassen sich in der Gestaltung seit jeher von natürlichen Phänomenen inspirieren. Vögel als Vorbilder für Flugzeuge, Klettpflanzen für Klettverschluss, Pflanzenblätter für künstliche Bindung von CO2 in festem Material.

Der Begriff der Biomimetik führt auf eine Biologin zurück: Janine Benyus. Sie veröffentlichte 1997 ihr Buch «Biomimicry»[3] und hat seither das Biomimicry Institute mitgegründet. Der Begriff der Biomimetik bezeichnet heute alle Versuche, industrielle Prozesse wieder der Natur anzugleichen: «Circular Economy» zum Beispiel ist ein Biomimetik-Konzept. 

Laut Benyus muss Biomimetik zum Standard werden, wollen wir den kommenden Generationen eine Zukunft erhalten. In einem Interview mit Bloomberg sagt sie: «Das Leben schafft Bedingungen, die dem Leben förderlich sind.»[4]


Funktion durch Struktur


In «Biomimicry» betont Benyus die Eindrücklichkeit von Naturmaterialien. Diese entstehen bei lebensfreundlichen Bedingungen; das heisst, bei Umgebungstemperatur, ohne äussere Einwirkung und ohne Schaden für die Umwelt. Unsere herkömmlichen Produktionen mit viel Hitze, Druck und chemischen Behandlungen wirken neben ihren Beispielen eigenartig verstaubt. Sie schreibt von der Mytilus edulis, einer Miesmuschel, die einen Klebstoff produziert, der besser ist als alles, was die heutige Industrie kann: Ein Leim, der unter Wasser angebracht wird und tatsächlich hält.

Am Rätsel, wie sich dieser Klebstoff zusammensetzt, wird seit Jahrzehnten geforscht. Dabei ist die Materialstruktur ein wiederkehrendes Thema.

Kira Hunt, eine Landschaftstechnologin an der University von Alberta, vergleicht die Spinnwarzen einer Webspinne mit einer Düse eines 3D-Druckers: Die Spinnwarze, das Ausführorgan am Unterleib der Spinne, setzt sich zusammen aus vielen Spinndrüsen, die eine Flüssigkeit freigeben. Diese festigt sich und wird zu Seide. Baut eine Spinne ihr Netz, bewegen sich ihre Drüsen je nach Konstruktion anders, womit sich die Struktur der Seide verändert. Verändert sich die Struktur, verändern sich wiederum die Materialeigenschaften.

Ununterbrochen produziert die Spinne so eine Reihe von Seidentypen. Darunter einen besonders Starken, um das Netz an anderen Strukturen zu befestigen, einen besonders Elastischen für die Stützteile und den Rahmen, und einen besonders Klebrigen für die dünnen Fäden, die Beute einfangen. Alles aus einer Düse. Ohne das Material wechseln zu müssen – nur mit Abweichungen in der Struktur – produziert die Spinne Stoffe, die sich völlig unterschiedlich verhalten.[5]


Bedingungen, die dem Leben förderlich sind


Ein entscheidender Faktor – neben Material, Struktur und Verarbeitung – ist die Lokalität. Produktion und Entsorgung, also «Schaffung und Zerfall», passieren am gleichen Ort. Das hat das Team hinter Materiom verstanden. In ihrer Materialbibliothek sammeln sie Rezepte für Materialien aus regional vorkommender Biomasse und stützen so lokale Wirtschaften und Ökologien. Es entsteht ein wachsendes Archiv aus Erfahrungen und Experimenten. Ziel sei es, möglichst viele Akteure an einer regenerativen Kreislaufwirtschaft teilhaben zu lassen, liest sich auf der Webseite des Projekts.

Das sei essenziell, meint Paige Curtis. Um ernsthaft nachhaltige Projekte umzusetzen, ist es entscheidend, dass genau die Menschen und Communitys, die von der Klimakrise bisher am meisten betroffen waren oder heute den grössten Risiken ausgesetzt sind, in den Prozess integriert werden. Damit das Design sich an sie richtet. In ihrem Beitrag für das Klima-Kultur-Magazin Atmos hält die Umwelt-Managerin fest: «Lösungen, die historische Ungerechtigkeiten nicht auf einer systemischen Ebene angehen, verdienen unsere Aufmerksamkeit nicht.» Das Wissen sei bereits vorhanden – bei lokalen Landwirt:innen, Gärtner:innen und Verwalter:innen. Diese müssen eingebunden werden, so Curtis.[6]


Design für das System


Curtis’ Argument für lokale, demokratische Lösungen wird geteilt von İdil Gaziulusoy und Fabrizio Ceschin. In ihrem jüngsten Buch «Design for Sustainability» (2020)[7] widmen die beiden Professor:innen für nachhaltiges Design ein ganzes Kapitel der Biomimetik. Darin halten sie fest, dass Designer:innen Biomimetik nicht isoliert praktizieren sollen.[8]

Nehmen wir dafür Klettverschluss unter die Lupe: Velcro, 1955 vom Ingenieur Georges de Mestral erfunden und patentiert, nutzt das Prinzip der Kletten: Pflanzen mit vielen kleinen Häkchen unterhalb der Blüte, die sich an Stoff und Fell festhängen. Das macht Klettverschluss zu einem Beispiel der ersten Ebene der Biomimetik: Eine Kopie der Form. Velcro, aus Nylon und Polyerster, wird aber nicht recycelt und gliedert sich so in keinen Kreislauf ein. Nach Benyus’ drei Ebenen Form, Prozess und System entsteht ökologisches Design deshalb kaum auf der oberflächlichen ersten Ebene. Designs mit tatsächlich nachhaltiger Wirkung bewegen sich auf der Systemebene, berücksichtigen lokale Ansprüche, funktionieren dezentral und demokratisch.

Wer auf Systemebene von der Natur lernen will, kann sich als erstes an AskNature wenden. AskNature ist eine Plattform des Biomimicry Institute und trägt Beispiele aus der Natur zusammen, wie diese komplexe Probleme löst. In den Sammlungen auf der Website finden sich Aufzeichnunen von spezifischen Fischformen bis komplexen Pilznetzwerken. Wen es beispielsweise interessiert, warum Bienenwaben hexagonal sind (Spoiler: Druckfestigkeit, Platzeffizienz, Temperaturkontrolle) findet auf der Website Videos und Texte zur Erklärung.

Janine Benyus ist zuversichtlich über die Zukunft einer Designdisziplin, die zuerst in die Natur schaut. Ich auch.

von Smilla Diener



Leseempfehlung:


Biomimicry. Innovation Inspired by Nature von Janine Benyus

Design for Sustainability. A Multi-level Framework from Products to Socio-technical Systems von İdil Gaziulusoy und Fabrizio Ceschin

https://materiom.org/ 
https://asknature.org/collections/ 

[1]Milasi; Marta für Domus: https://www.domusweb.it/en/design/2019/03/25/aguahoja-the-organic-composite-that-will-save-us-from-plastic.html (14.6.21)
[2]
Aguahoja/MIT Media Lab: https://www.youtube.com/watch?v=14flotuAzfY (14.3.21)
[3]Benyus, Janine M., 1997: Biomimicry. Innovation Inspired by Nature. William Morrow Paperbacks
[4]
Benyus, Janine für Bloomberg: https://www.bloomberg.com/news/articles/2016-04-07/8-innovations-inspired-by-nature-s-genius (14.6.21)
[5]Hunt, Kira: Vorlesung zu Biomimetik https://www.youtube.com/watch?v=gRCNvZ55M2A&list=LL&index=1 (14.6.21)
[6]Curits, Paige für Atmos: https://atmos.earth/climate-technology-solutions-ideas/ (14.6.21)
[7] Gaziulusoy, İdil/Ceschin, Fabrizio, 2020: Design for Sustainability. A Multi-level Framework from Products to Socio-technical Systems. Routledge[8] Gaziulusoy, İdil/Ceschin, Fabrizio, 2020: Design for Sustainability. A Multi-level Framework from Products to Socio-technical Systems. Routledge. Kapitel 6: Biomimicry Design S. 63.72
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